Bildung und Sittlichkeit - Nach muslimischen Bildungsdenkern


Bildung und Sittlichkeit

Inhaltsverzeichnis
1.    Einleitung
2.    Begrifflichkeiten
3.    Bildung und Sittlichkeit
3.1. Nach Friedrich Schleiermacher
3.2. Nach muslimischen Bildungsdenkern
3.3. Sittlichkeit im Lehrplan des islamischen Religionsunterrichts.
4.    Fazit
Literaturverzeichnis

Sitte oder Sittlichkeit wird im Arabischen häufig mit dem Wort „Aḫlāq“ wiedergeben. Aḫlāq ist der Plural von ḫulq und bedeutet im Allgemeinen „Schöpfung“. Ḫulq und ḫalq verkörpern gemeinsam ein Ganzes und beide betreffen die Erschaffung des Menschen. Ḫulq wird für das Innere bzw. Psyche des Menschen und ḫalq für das Äußere bzw. Physiologie des Menschen benutzt (vgl. Kaymakcan & Meydan, S. 15).
Aḫlāq lässt sich in drei verschiedenen Definitionsgruppen unterteilen. Die erste Gruppe bringt ihn sowohl mit den Handlungen und Lebensweise des Menschen als auch mit seinen innerlichen Charaktereigenschaften oder Benehmen in Verbindung. Die zweite Gruppe sieht bei Aḫlāq vielmehr eine äußere Einwirkung, die ihn so formt, dass der Mensch seine Handlungen gemäß den Werten und Normen der Gesellschaft richtet. Die letztere Gruppe sieht in Aḫlāq eine Wissenschaftsdisziplin, die sowohl mit den Charaktereigenschaften des Menschen als auch mit den Gesellschaftswerten und Normen sich theoretisch- wissenschaftlich auseinandersetzt und vieles zu verstehen versucht (vgl. ebd. S. 16).        
Die ersten muslimischen Philosophen, die sich mit dem Begriff Aḫlāq beschäftigten, verstanden mehrheitlich darunter Charakter und Benehmen. So dachte auch Ibn Miskawayh (geb. 940 n. Chr.), der im 10 Jahrhundert das Werk „Nikomachische Ethik“ von Aristoteles studierte und der erste war, der die islamische Ethik-Philosophie aufbaute. Er selbst verfasste Werke über griechische Philosophie, Anthropologie, Religion-Ethik Beziehung, Kindererziehung und Ethik als höchstes Ziel. In seinem Werk „Tahd̲īb al-ʼah̲lāq“ (Erziehung des „Aḫlāq“ (Charakters)) werden Tugenden aufgezeigt, die mit der Vernunft gemeinsam die Verführungen des eigenen Nafs (Seele) überwältigen sollen. Die Seele soll durch Aneignung und dauerhafte Verwendung der Tugenden gezähmt werden. Diese Methode ist seither ein fester Bestandteil in der islamischen Mystik (Sufismus). Der Verfasser gibt im Vorwort den Grund für das Schreiben seines Werkes an. Sein Wunschziel ist es, dass alle Handlungen nicht nur gut ausgerichtet sein sollen, sondern dass durch den richtigen Charakter diese Tugenden sehr leicht und einfach aufgenommen werden sollen. Bei der Kindererziehung besitzt Ibn Miskawayh für die damalige Zeit ungewöhnlich interessante Ansätze. Für ihn ist das erste in Erscheinung tretende Gefühl beim Kind „hayā“ (Schamgefühl), die Angst, dass etwas Falsches von ihm gesehen wird. Das Vorhandensein dieser Tugend ist ein Zeichen von Vernunft. So kann es leicht erzogen werden. Tugendhafte Menschen sollen neben dem Kind gelobt und es soll nach Vollbringung guter Taten neben anderen gelobt werden. Dem Kind soll bewusstgemacht werden, dass schlechte Taten getadelt werden, aber tadeln darf man es auf keinem Fall neben anderen, sonst könnte es unverschämt werden. Das Kind soll sich nicht an nichtnotwendige Gelüste gewöhnen. Zuerst sollen dem Kind die Essensregeln beigebracht werden, es soll verstehen, dass man aus gesundheitlichen Gründen Essen zu sich nimmt und nicht isst um der Lustwillen. Fern von Alkohol-Versammlungsorten soll das Kind gehalten werden. Seine Kleider sollen nicht im Vergleich zu seinen FreundInnen voll ausgeschmückt sein, damit die anderen Kinder nicht neidisch werden. Dem Kind soll das Zuhören der Eltern und der LehrerInnen ans Herz gelegt werden (vgl. ebd. S. 50-53). Wie aus diesen genannten Beispielen zu erkennen ist, beinhaltet das Werk von Ibn Miskawayh sehr viele Berührungspunkte, wie man Sitte und Sittlichkeit vermitteln soll.     
Ihm folgt der Gelehrte al-Ġazzālī (geb. 1058 n. Chr.), einer der zweifelslos wichtigsten Denker in der islamischen Geschichte. Zunächst schrieb er ein Fachbuch über die Philosophie, anschließend verfasste er aus den islamischen Quellen heraus eine Wiederlegung der Philosophie. Er ist der Vorzeigegelehrte der Sufistischen-Schulen. Sein Werk „Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn“ (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) ist Hauptwerk für viele Sufis, in dem er einen Weg vorschreibt, wie tugendhaft ein Leben ohne Hab und Gut, nur mit Gottesliebe und Demut geführt werden kann. Al-Ġazzālī bezweckt mit diesem Werk vielerlei. Zunächst soll das Herz gereinigt werden, die Handlungen sollen ohne Augendienerei und Formalismus betätigt werden, Unkenntnis, Aberglaube und Gleichgültigkeit soll vermindert werden. Seine Ausführungen unterstrich er mit ausgewählten Koranpassagen, Hadithen (Aussprüche vom Propheten Muhammad) und Erzählungen. Sein Ziel ist die Vervollkommnung der Seele durch eine theoretisch-praktische und pädagogische Aufarbeitung der Ethik-Themen, durch Unterteilung in Tugenden und unerwünschte, schlechte Charaktereigenschaften angefangen im Kleinkindesalter. Die höchste Glückseligkeit ist für ihn ein tugendhaftes Leben, welches den Menschen dem Schöpfer näherbringt. Nur gute Taten und Tugendhaftigkeit, können zur Nähe Gottes verhelfen. Das wahre Leben ist das jenseitige Leben, wahre Freude ist das Leben im Paradies in der Gegenwart des Allgütigen Schöpfers. Sein zweites Werk „Ayyuhā al-walad“ (O Sohn) ist unter der muslimischen Community eine sehr beliebte pädagogische Abhandlung mit Vorgaben an Erwachsene zur Erziehung der Kinder, in Bereichen des Gottesdienstes, Normen und Werten, Sprache und Dichtung. Al-Ġazzālī unterstreicht nicht nur die Wichtigkeit der Erziehung bei der Entwicklung des Aḫlāq sondern fordert ein religiöses Leben um tugendhaft zu sein. Er legt großen Wert auf Reinigung des Herzens (tazkiyah), die Vervollkommnung der Seele und harmonische Gesellschaftsethik. Um die Seele sauber zu halten ist das Gleichgewicht zwischen Theorie (Wissenschaft) und Praxis notwendig. Die sufistische Ethik erfordert sowohl eine rundum gottergebene Lebensweise als auch einen Dschihad (Anstrengung) mit dem eigenen Ego (vgl. ebd. S. 53-57).            
Als dritter in dieser Reihe begegnet uns der muslimische Philosoph Naṣīr al-Dīn Ṭūsī (geb. 1201 n. Chr.). Wie al-Ġazzālī wurde auch er von den Arbeiten Ibn Miskawayhs sehr beeinflusst. Neben Werken über Mathematik, Astronomie, Medizin, Philosophie und Psychologie verfasste der aus Khorasan stammende Wissenschaftler Ṭūsī auch ein Werk in persischer Sprache über die Ethik, „Aḫlāq an-Nāṣrī“ (Moral des Nāsirī), welches Jahrhunderte lang verschiedenste Philosophen beeinflusste. In der Schrift findet man eine Übersicht über ethisch-moralische und philosophische Gesichtspunkte der islamischen Zivilisation zu der damaligen Zeit. Das Werk ist in drei Überschriften unterteilt: I) Erziehung von Ethik und zwei Unterpunkte Prinzipien (Grundsatzprinzipien, human-rationale Seele und ihre Teilgebiete, der Mensch als wichtigstes Wesen, die Vervollkommnung der Seele und worin ihre Vervollkommnung liegt) und Grenzen (Limit, Natur und Veränderung von Anordnungen, Korrektur von Anordnungen – die wichtigste Disziplin, Klassen der Tugend und Exzellenz von Anordnungen, Arten in diesen Klassen, Gerechtigkeit, Aufrechterhaltung einer gesunden Seele und Heilung von Krankheiten); II)  Wirtschaftlichkeit und Haushaltsführung, Regulierung von Eigentum und Märkten, Eltern-Kinder- bzw. Familienbeziehungen; III) Staatsführung und Politik: Notwendigkeit von Zivilisation, die Natur von Politik, über Liebe (Gesellschaftsbeziehung), Unterteilung von Zivilisationen und Zustände in den Städten, Stellung der Adeligen, Freundschaft und Freunde, Zwischenmenschliches Verhalten (vgl. Wickens). Die Schrift ist insofern wissenschaftlich aufgesetzt, da der Verfasser sehr oft Bezug nimmt auf die Werke von Ibn Miskawayh, Ibn Sīnā (Avicenna, geb. 980 n. Chr.) und al-Fārābī (geb. 872 n. Chr.). Für den Philosophen Naṣīr al-Dīn Ṭūsī ist bei den Ethik-Wissenschaften insbesondere die Reinhaltung der Seele durch Befreundung mit tugendhaften Personen wichtig. Denn nichts beeinflusst den Menschen so stark wie eine enge Beziehung zu einem Freund bzw. zu einer Freundin. Was der Seele am meisten schadet ist Tugend- und Wertelosigkeit, die durch Unwissenheit bzw. vermehrte Unwissenheit (nicht zu erkennen, dass man nicht weiß), Wut, Furcht bzw. Feigheit, Angst vor Tod, Nachgeben von Gelüsten, Faulheit hervorgerufen wird. Daher hat er bei der Erziehung der Gesellschaft insbesondere bei Kindern und Jugendlichen die Stärkung der Tugenden hervorgehoben und versucht aufzuzeigen, dass alles was der Seele Schaden mitbringt vehement zu beseitigen ist, damit die Seele rein bleibt (vgl. Kaymakcan & Meydan, S. 57-60).      
Zuletzt in dieser Reihe wollen wir uns den Ansichten des türkischen Denkers Kınalızâde Ali Efendi widmen. Er wurde in meiner Geburtsstadt Isparta im Jahre 1572 geboren. Nach seiner ersten Grundbildung in Isparta ging er nach Istanbul um in der Madrasa „Sahn-ı Seman” (Universität im heutigen Sinne) zu studieren. Nach seinem Studium wurde er zum Dozenten berufen und unterrichtete 20 Jahre lang in Städten wie Istanbul, Edirne, Bursa und Kütahya. Nach dem Ibn Miskawayh die Grundsteine der Islamischen Ethikphilosophie auf Arabisch setzte, Naṣīr al-Dīn Ṭūsī diese in Persisch weiter ausbaute, vertiefte Kınalızâde diese Philosophie in seinem türkisch verfassten Werk „Ahlâk-ı Alaî“ (die große Aḫlāq (Ethik)). Die Bekanntheit dieses Werkes beruht daher, dass er die ethischen Ausführungen vieler klassischen Ethik-Wissenschaftler wie Aristoteles, Ibn Miskawayh, al-Ġazzālī und Naṣīr al-Dīn Ṭūsī in seinem Werk Platz einräumte und in seine Moralphilosophie hineinfließen ließ. Eingeleitet wird seine Arbeit mit der Beschreibung der Seele und Beschaffenheit eines Neugeborenen. In seinem Ethik-Teil beschreibt er wiederum die Ethik-Wissenschaften. Themen sind Reinigung der Seele, Tugenden und schlechte Charaktereigenschaften. Dabei verweist er auf die klassischen Werke der früheren Ethikwissenschaftler und gibt die vier Haupttugenden, die für sie Geltung hatten, wieder: Weisheit, Mut, Ehre und Gerechtigkeit. Zur Tugendhaftigkeit gelangt man durch den Mittelweg. Schlechten Charakter erhält man hingegen, wenn man vom dem Mittelweg abweicht durch Über- oder Untertreibung. Unterdrückung des Menschen ist eine Ungerechtigkeit, daher darf der Mensch nicht unterdrücken oder unterdrückt werden. Einige Krankheiten der Seele, welche den Menschen zur Verderbnis führen können sind unnötige Angst und Furcht, Übertreibung beim Essen oder Nachgehen von Gelüsten, traurig sein bei Unerreichbarkeit von unmöglichen Wünschen, Neid, nutzlose Beschäftigung, Verderben, üble Nachrede, nicht Einhaltung von Versprechungen (von Verträgen) und Augendienerei. Obwohl die Polygamie zu dieser Zeit überall praktiziert wurde, sprach sich Kınalızâde bei der Ehe für eine Monogamie aus. Die Kinder sollten unbedingt eine religiös-ethische Erziehung genießen, auch die Töchter sollten unterrichtet und alphabetisiert werden, denn das Erwerben von Wissen ist im Islam sowohl für Männer als auch für Frauen eine Verpflichtung (vgl. ebd. S. 60-62).            
Eine Gemeinsamkeit aller aufgeführten Werke ist die Behandlung des Themas „Tahd̲īb al-ʼah̲lāq“ (Erziehung des Charakters). Es ist offensichtlich, dass für die muslimischen Philosophen das Hauptaugenmerk auf Erziehung bzw. Bildung der Menschen und deren Sittlichkeit ist. Erziehung zur Sitte und Sittlichkeit, Erziehung des Charakters, Reinigung der Seele, sind Aufgabengebiete muslimischer ErzieherInnen, schon ab dem Kleinkindesalter, welche von Bildungsphilosophen aufgestellt wurden. Demzufolge gelten diese klassischen Abhandlungen heute noch als Standartwerke für muslimische Pädagogen und Pädagoginnen.  
              
Textauszug aus:
Erdemir, E. (2018). Bildung und Sittlichkeit. München: GRIN Verlag

https://www.grin.com/document/428467


Literaturverzeichnis
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