Grundlagen der islamischen Spitalseelsorge in Österreich


Grundlagen und Entwicklung der Islamischen Spitalseelsorge in Österreich – Ausführliche Zusammenfassung

Die islamische Seelsorge in Österreich gründet auf einer in Europa einzigartigen historischen und rechtlichen Tradition. Bereits 1912 wurde der Islam als Religionsgemeinschaft gesetzlich anerkannt – ein Schritt, der aus den engen Beziehungen zwischen der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich hervorging. Seit dem frühen 18. Jahrhundert hatten osmanische Untertanen das Recht, sich in österreichischen Gebieten niederzulassen, wodurch faktisch auch Glaubensfreiheit für Muslime gewährt wurde.

Die Eingliederung Bosnien-Herzegowinas 1878 in die Habsburgermonarchie brachte eine große muslimische Bevölkerung unter österreichische Verwaltung. Damit stellte sich die Frage nach der rechtlichen Integration des Islam. Das Islamgesetz von 1912 anerkannte die Anhänger der hanafitischen Rechtsschule als Religionsgesellschaft und gewährte ihnen die freie Religionsausübung, das Recht auf Selbstverwaltung und den Aufbau religiöser und wohltätiger Einrichtungen. Eine ausdrückliche Regelung zur Seelsorge fehlte jedoch. Erst durch die Neufassung des Islamgesetzes im Jahr 2015 wurde das Recht auf religiöse Betreuung in besonderen Einrichtungen – wie Militär, Gefängnissen, Krankenhäusern und Pflegeanstalten – gesetzlich verankert (§ 11).

Die Entwicklung der islamischen Seelsorge ist eng mit der Gründung und dem Ausbau der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) verbunden. Diese wurde 1979 nach jahrelangen Bemühungen offiziell als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt und stellt seither die zentrale Vertretung der Muslime in Österreich dar. Die Verfassung der IGGÖ definiert ihre Aufgaben als Wahrung und Pflege der Religion, religiöse Erziehung, Ausbildung von Theologinnen, Religionslehrern und Seelsorgerinnen sowie die Schaffung entsprechender Einrichtungen. 1987 weitete der Verfassungsgerichtshof die Anerkennung auf alle sunnitischen und schiitischen Rechtsschulen aus, womit der Islam in seiner inneren Vielfalt institutionell abgebildet wurde.

Die aktuelle Verfassung der IGGÖ von 2020 beschreibt Seelsorge als Dienst am Menschen, der physische, geistige und spirituelle Dimensionen umfasst. Seelsorgerinnen und Seelsorger sollen den Gläubigen Vorbilder in Glauben, Gottvertrauen und Aufrichtigkeit sein. Ihr Aufgabenbereich reicht von religiöser Unterweisung und Koranunterricht über Ehe- und Familienberatung bis zur Sterbebegleitung. Damit wird Seelsorge im islamischen Verständnis als umfassende Sorge um das seelische, soziale und spirituelle Wohl verstanden.

Institutionalisierung und Professionalisierung

Einen wichtigen organisatorischen Schritt stellte 2001 die Gründung des Islamischen Besuchs- und Sozialdienstes (IBS) dar. Ziel war, die bis dahin vor allem ehrenamtlich geleistete Seelsorge in Krankenhäusern und Haftanstalten zu koordinieren, zu strukturieren und zu professionalisieren. Der IBS kümmerte sich um regelmäßige Besuche in Gesundheitseinrichtungen, die Schulung von Ehrenamtlichen und medizinischem Personal sowie die Dokumentation muslimischer Bedürfnisse.

2013 ging aus diesem Projekt der Verein „Islamische Seelsorge für muslimische PatientInnen in Österreich“ hervor, der seither die seelsorgliche Arbeit in Spitälern organisatorisch trägt. Er versteht sich als Dienstleister für muslimische Patientinnen und Patienten und fördert zugleich den interkulturellen Dialog. Neben individueller Begleitung gehören auch Fortbildungsangebote für das medizinische Personal sowie interreligiöse Kooperationen zu seinen Aufgaben.

Akademische Ausbildung

Mit dem Islamgesetz von 2015 wurde auch die Grundlage für eine akademische Ausbildung islamischer Seelsorgerinnen und Seelsorger geschaffen. Von 2017 bis 2022 bot die Universität Wien in Zusammenarbeit mit der IGGÖ entsprechende Lehrgänge an.

Der Zertifikatskurs „Grundlagen der islamischen Seelsorge“ umfasste 30 ECTS und vermittelte innerhalb von drei Monaten berufsbegleitend Kenntnisse in pluralistischer Seelsorge, Sozialpädagogik, Gesprächsführung, Ethik, Rechtskunde und Genderfragen. Das integrierte Praktikum ermöglichte praktische Erfahrungen in Spitälern und anderen Einrichtungen.

Darauf aufbauend bot der Kurs „Fachgebiet Spitalseelsorge“ (15 ECTS) eine vertiefte Auseinandersetzung mit theologischen, ethischen und praktischen Fragen im Krankenhauskontext. Beide Programme haben die Teilnehmenden befähigt, die Bedürfnisse muslimischer Patientinnen und Patienten zu erkennen und in unterschiedlichen institutionellen Rahmen seelsorgerlich tätig zu werden.

Das Ausbildungskonzept folgte unter anderem dem Verständnis Jürgen Ziemers, wonach Seelsorge ein kommunikativer Vorgang zwischenmenschlicher Hilfe ist, der Glauben und Leben stärken soll. Dieses dialogische Verständnis betont die spirituelle, psychologische und soziale Dimension seelsorgerischen Handelns.

Spirituelle Grundlagen

Im Islam gilt Seelsorge als Ausdruck der Verantwortung für das seelische Wohl des Mitmenschen. Wie der Körper Nahrung benötigt, braucht auch die Seele spirituelle „Ernährung“ durch Gebet, Koranrezitation und das Gedenken Gottes. Der Prophet Mohammed selbst besuchte Kranke und spendete Trost – ein Vorbild, das im islamischen Verständnis seelsorgerisches Handeln prägt. Seelsorge dient daher nicht nur der religiösen Unterweisung, sondern auch der Sinnstiftung, Hoffnung und emotionalen Begleitung in schwierigen Lebensphasen.

Interreligiöse Zusammenarbeit

Ein Vorzeigeprojekt islamischer Seelsorge ist die Zusammenarbeit im Allgemeinen Krankenhaus (AKH) Wien, wo auf der sogenannten „interreligiösen Meile“ Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Religionen – darunter islamische, katholische, evangelische, orthodoxe, jüdische und buddhistische Seelsorge – gemeinsam tätig sind. Der Verein „Islamische Seelsorge“ verfügt dort über ein Büro und einen muslimischen Gebetsraum, in dem auch Freitagsgebete stattfinden.

Diese Kooperation wird durch gemeinsame Informationsveranstaltungen, eine Website und eine jährliche öffentliche Präsentation der „religiösen Meile“ gefördert. In der begleitenden Vortragsreihe „Religionen / Seelsorge / Ethik im AKH“ diskutieren Theologinnen, Mediziner und Vertreter verschiedener Religionen ethische und spirituelle Fragen der modernen Medizin. Themen wie Sterben und Tod im Krankenhaus, Digitalisierung oder Suizid werden dort aus interdisziplinärer Perspektive behandelt. Dieses Miteinander gilt europaweit als beispielhaft für interreligiöse Zusammenarbeit.

Herausforderungen und Perspektiven

Trotz der deutlichen Fortschritte bleibt die islamische Spitalseelsorge in Österreich ein Projekt im Aufbau. Die meisten Seelsorgerinnen und Seelsorger arbeiten ehrenamtlich – im Gegensatz zu den hauptamtlichen Teams der katholischen und evangelischen Kirchen. In Wien betreuen rund 35 muslimische Seelsorgerinnen und Seelsorger 36 Krankenhäuser, während es landesweit 278 Spitäler gibt, die langfristig mit islamischer Seelsorge ausgestattet werden sollen.

Ein weiteres Ziel ist die Einrichtung von Gebetsräumen in allen Krankenhäusern. Ein gelungenes Beispiel ist das neue Klinikum Floridsdorf (ehemals Krankenhaus Nord), wo Kapelle, Moschee und Synagoge architektonisch in einem gemeinsamen Seelsorgezentrum vereint sind – ein Symbol für interreligiöse Offenheit.

Seit Beginn der akademischen Ausbildung 2017 haben rund 150 Personen an der Universität Wien ihre Seelsorgequalifikation erworben. Etwa 25 von ihnen konnten die Zertifikate in den Bereichen Krankenhaus-, Gefängnis- und allgemeine Seelsorge erfolgreich abschließen. Pandemiebedingte Einschränkungen verzögerten zeitweise praktische Einsätze, doch die Zahl aktiver Seelsorgerinnen wächst stetig.

Schlussbemerkung

Die islamische Spitalseelsorge in Österreich zeigt eindrucksvoll, wie religiöse Betreuung in einem pluralistischen Staat verankert und professionalisiert werden kann. Sie vereint spirituelle Begleitung, fachliche Qualifikation und interreligiöse Kooperation. Durch die institutionelle Unterstützung der IGGÖ, die universitäre Ausbildung und die gelebte Zusammenarbeit mit anderen Religionsgemeinschaften trägt sie wesentlich zu einer modernen, integrativen Seelsorgepraxis bei, die religiöse Vielfalt nicht als Herausforderung, sondern als Bereicherung versteht.

Literaturhinweis: Erkan Erdemir, Standards in den Seelsorgeausbildungen: christlich, muslimisch, interreligiös – Positionen, Grenzen, Herausforderungen. Tagungsdokumentation, Universität Hamburg: 2021


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